Die Gegenwart aus der Geschichte deuten!

Werner Vogt„Existenz“, sagt der Philosoph Karl JASPERS, ist immer „in Situation“. Existenz ist Geschichtlichkeit. Was aus dem einzelnen Menschen wird, ist situationsbedingt durch die Menschen, die ihm begegnen, und durch die Glaubensmöglichkeiten, die an ihn appellieren. Doch: „ich“, so sagt uns der große Denker weiter, kann nie die Situation als Ganzes fassen. Ich muß meine Welt kennen, darf mich ihr auch nicht versagen, muß in „geschichtlicher Einsenkung“ die Notwendigkeiten der geschichtlichen Stunde begreifen - ohne dies allerdings im Letzten zu können.
Was hier von Karl JASPEPS für den Menschen im Allgemeinen gesagt wird, gilt auch für uns - die Heilpraktiker - im Besonderen. Auch wir, jeder Einzelne von uns, befinden uns dauernd „in Situation“. Auch unsere Existenz ist Geschichtlichkeit. Jeder von uns hat seine Geschichte. Auch unser Werden ist situationsbedingt durch die Menschen, die uns begegnen, und durch die Glaubensmöglichkeiten, die an uns appellieren. Und schließlich ist jeder Einzelne von uns allein schon durch seine Berufswahl gezwungen, die eigene Welt - die Welt des Heilpraktikers und der Heilpraxis - zu kennen und in „geschichtlicher Einsenkung“ die ‚ Notwendigkeiten der geschichtlichen Stunde zu begreifen. Denn, so belehrt uns der Historiker Ralph Barton PERRY: Selbst jene, „die von dem Überkommenen abgehen möchten, können es nur, indem sie sich mit diesem Überkommenen auseinandersetzen“, und sie „tun gut daran, darüber nachzudenken, dass es doch mindestens der Ausgangspurkt ihres ‚neuen‘ Weges ist“. Wir lernen zwar durch eigene Erfahrung, wir lernen aber auch „durch Wort und Beispiel derer, die schon ihre eigenen Anschauungen haben - ohne die Leiden noch einmal zu erdulden, die jene durchmachen mussten, um so weit zu kommen“. Der Einzelne „wird erst zum Mann, der fest in seiner Zeit und auf seinem Platz steht, nachdem er in das Bad der Tradition getaucht und mit ihren neuesten Farbtönen gebeizt worden ist“. Dabei verführt „der Ausdruck ,Tradition‘ vielfach zu missverständlichen Gedankenverbindungen: er scheint Vergangenes suggerieren zu wollen, während die wichtigste Aufgabe der Tradition die Deutung der Gegenwart ist“.
Das sagt uns ein erfahrener Historiker - und gibt damit eigentlich das Thema dieses Aufsatzes an: Die Gegenwart aus der Geschichte zu deuten, unsere derzeitige „Situation“ aus ihr zu erkennen, zu erkennen, was wir, was unser Berufsstand vor dem Hintergrund der Geschichte ist.