Heilpraktiker und Arzt - Eine Geschichte, zwei Wege

Einleitung

Viele betrachten heute Arzt und Heilpraktiker als zwei völlig getrennte Berufe. Aus der Geschichte betrachtet ergibt sich eine viel differenzierte Antwort. Sie hilft auch, viele Unterschiede zwischen Arzt und Heilpraktiker leichter zu verstehen. Werner Vogt hat dies in dem viel beachteten Aufsatz Arzt und Heilpraktiker - Eine Geschichte, zwei Wege dargestellt. Auch wenn er sich liest als wäre dieser Aufsatz heute geschrieben - erschienen ist er in der Fachzeitschrift  „Naturheilpraxis“, 19. Jahrgang, Heft 9/1966, Seite 319 - 326. Er ist heute genau so aktuell wie damals. Denn im Prinzip hat sich seit den Römern und vor ihnen bei den alten Griechen wenig verändert, wie Werner Vogt beweist. Eine Geschichte die auch viele Aspekte der Rechnungslegung des Heilpraktikers beeinflusst. Kein Wunder dass diese Geschichte in anderer Weise auch in dem Abrechungs-Leitfaden Leistung und Honorar von Werner Vogt bei der Erläuterung bestimmter Entwicklungen wieder auftaucht. Genug der Worte. Öffnen Sie das Tor in die Geschichte von Arzt und Heilpraktiker in dem Sie den folgenden Aufsatz lesen.

Wolfgang Vogt



Die Gegenwart aus der Geschichte deuten!


„Existenz“, sagt der Philosoph Karl JASPERS, ist immer „in Situation“. Existenz ist Geschichtlichkeit. Was aus dem einzelnen Menschen wird, ist situationsbedingt durch die Menschen, die ihm begegnen, und durch die Glaubensmöglichkeiten, die an ihn appellieren. Doch: „ich“, so sagt uns der große Denker weiter, kann nie die Situation als Ganzes fassen. Ich muß meine Welt kennen, darf mich ihr auch nicht versagen, muß in „geschichtlicher Einsenkung“ die Notwendigkeiten der geschichtlichen Stunde begreifen - ohne dies allerdings im Letzten zu können.
Was hier von Karl JASPEPS für den Menschen im Allgemeinen gesagt wird, gilt auch für uns - die Heilpraktiker - im Besonderen. Auch wir, jeder Einzelne von uns, befinden uns dauernd „in Situation“. Auch unsere Existenz ist Geschichtlichkeit. Jeder von uns hat seine Geschichte. Auch unser Werden ist situationsbedingt durch die Menschen, die uns begegnen, und durch die Glaubensmöglichkeiten, die an uns appellieren. Und schließlich ist jeder Einzelne von uns allein schon durch seine Berufswahl gezwungen, die eigene Welt - die Welt des Heilpraktikers und der Heilpraxis - zu kennen und in „geschichtlicher Einsenkung“ die ‚ Notwendigkeiten der geschichtlichen Stunde zu begreifen. Denn, so belehrt uns der Historiker Ralph Barton PERRY: Selbst jene, „die von dem Überkommenen abgehen möchten, können es nur, indem sie sich mit diesem Überkommenen auseinandersetzen“, und sie „tun gut daran, darüber nachzudenken, dass es doch mindestens der Ausgangspurkt ihres ‚neuen‘ Weges ist“. Wir lernen zwar durch eigene Erfahrung, wir lernen aber auch „durch Wort und Beispiel derer, die schon ihre eigenen Anschauungen haben - ohne die Leiden noch einmal zu erdulden, die jene durchmachen mussten, um so weit zu kommen“. Der Einzelne „wird erst zum Mann, der fest in seiner Zeit und auf seinem Platz steht, nachdem er in das Bad der Tradition getaucht und mit ihren neuesten Farbtönen gebeizt worden ist“. Dabei verführt „der Ausdruck ,Tradition‘ vielfach zu missverständlichen Gedankenverbindungen: er scheint Vergangenes suggerieren zu wollen, während die wichtigste Aufgabe der Tradition die Deutung der Gegenwart ist“.
Das sagt uns ein erfahrener Historiker - und gibt damit eigentlich das Thema dieses Aufsatzes an: Die Gegenwart aus der Geschichte zu deuten, unsere derzeitige „Situation“ aus ihr zu erkennen, zu erkennen, was wir, was unser Berufsstand vor dem Hintergrund der Geschichte ist.

 

Wann begann unsere Geschichte?


Fragen wir uns zunächst einmal: Wann begann unsere Geschichte eigentlich? Ja, wann begann sie eigentlich? Als die erste Mutter sich über ihr schreiendes Kind beugte, als ein Freund dem anderen einen Stachel aus seiner Wunde zog, da begann unsere Geschichte, die Geschichte der Heilkundigen. Es gilt für uns, wenn Professor R. VIRCHOW um 1900 erklärte: „Ihre Ruhmestitel suchen sie (die Heilkundigen) nicht in der Doktrin, nicht in einer wissenschaftlichen Erkenntnis der krankhaften Prozesse, nicht in der Pathologie, sondern in der praktischen Übung, in der Behandlung der einzelnen Kranken, in summa in der Therapie:“ Denn mit den Empirikern des  klassischen Alexandrien sind wir heute noch der Meinung: Die Heilkunst ist nicht durch Theorie erfunden worden, sondern erst nach Findung der Medizin hat man nach Theorien gesucht. Und wer will - um nur ein Beispiel zu nennen - etwa bestreiten, dass die Meerzwiebel in ihrer Anwendung gegen Wassersucht uraltes Erfahrungsgut ist? Schon die alten Griechen wussten hiervon. Doch die „Theorie“, dass das herzwirksame Glykosid Scillaren die Wasseraustreibung bewirkte, ist viel jüngeren Datums.
Stets hat der Mensch jedoch nach dem „Warum“ gefragt, und so auch nach dem „Warum“ seines Erkrankens. Verletzungen waren „offenbar“, doch im Dunkeln wirkten die Krankheiten. Die numinose Macht (lat. numen = das göttliche Walten; das Heilige), die der mündig gewordene Adam hinter allem Sein und Geschehen erahnte, wurde in der Personifizierung der Gottheit zum Gegenspieler seines Geschöpfes und beantwortete durch sein nur in den Auswirkungen erkennbares Dasein als erster die Frage nach dem „Warum“ -  auch diejenige nach dem „Warum des Erkrankens“. Ob als „Besessenheit„ oder als „Strafe Gottes“ begriffen, ein numinoses Wirken spiegelte sich in jedem Kranksein und wies die Behandlung desselben sozusagen automatisch jenen zu, denen der Verkehr mit dem Numinosen oblag - den Priestern. In ihren Händen ward die Behandlung zum Kult und die „Weihe“ des Kultausübenden, sein Wissen um den Umgang mit dem Numinosen, trennte denselben automatisch von denen, die sich außerhalb des Tempels um die Behandlung von Kranken bemühten - Von den Heilkundigen also.

 

Aus dem Zweifel entstand eine neue Idee!

 

Mit dem Zweifel zog dann eine neue Idee in die Heilkunde ein. Denn der Zweifel nagte am Throne der Götter und brachte schließlich durch XENOPHANTES (580 bis 480 v. Chr.) jenen Göttersturz, aus dessen Trümmern eine „Philosophie“ erwuchs, deren erste Repräsentanten die sogenannten jonischen Naturphilosophen waren. „Die heilige Krankheit“ wurde unter ihrem Einfluss zu  einem „natürlichen“ Geschehen, die Krankheit zum „Naturvorgang“, zum „Streit der Elemente“, zur „Disharmonie“ der Organsubstanzen. Rasch fanden sie Anhänger in einer Welt, in der das sophistische Spiel mit Worten zur Mode geworden war. Neben einfachen Erfahrungsheilern und Priesterärzten begegnen uns im klassischen Griechenland deshalb auch - als dritte Gruppe - Arztphilosophen, deren „Stand“ in der Gestalt des HTPPOKRATES seine bedeutendste Personifizierung findet. Er deutete das, was einem Krankheitsgeschehen zugrunde liegt, vor dem Hintergrund der Vier-Elementen-Lehre des EMPEDOKLES, und kam damit zu jener „Humoralpathologie“ bzw. „Säftelehre“, die als Grund jeder Erkrankung eine Überfülle, Überernährung oder Vergiftung ansah und in ableitenden und ausleitenden Behandlungsverfahren die universellen Heilmittel.

Die Deutung des HIPPOKRATES war aber nicht und blieb auch nicht die Einzige. Was er auf eine Störung der Säfte zurückführte, d.h. auf eine einseitige Verschiebung ihres Gleichgewichtes, führte der Bithynier ASKLEPIADES auf eine Störung im Bereich jener- Atome - unteilbaren Einheiten - zurück, welche DEMOKRITOS als Grundlage alles Seins bezeichnet hatte. Deshalb bezeichnet man ASKLEPIADES als Begründer der „Solidarpathologie“, d.h. der Pathologie der festen (soliden) Körperbestandteile. Mit seinem Gegensatz zu HIPPOKRATES sind die Grundgedanken festgelegt, um welche sich die medizimische Geistesgeschichte in unsere Tage emporwindet. Zunächst nur rein spekulativ-(grübelnd)-gedanklich, Ideen zu Systemen formend. Denn wie lässt Johann Wolfgang von GOETHE seinen Mephisto so schön sagen: „Mit Worten lässt sich‘s trefflich streiten -, mit Worten ein System bereiten -, an Worte lässt sich trefflich glauben -, von Worten lässt, sich kein Jota rauben!“ Doch was lange nur Wort und Wortspiel war, füllte sich mit Inhalt als ärztliche Forscher, allen voraus Andreas VESALIUS, zum Messer griffen, um in den - toten - menschlichen Organismus vorzudringen. Der „anatomische Gedanke“ kam zum Durchbruch und mit ihm die „Solidarpathologie“. Über des Giovanni MORGAGNI „0rganpathologie“ und des Franz Xaver BICHAT „Gewebspathologie“ führt der Weg zu Rudolf VIRCHOW, der glaubte, in der Zelle das Atom des Lebens gefunden zu haben und damit der Solidarpathologie zum scheinbaren Endsieg verhalf, indem er die Krankheit „als eine veränderte Zelle oder ein verändertes Aggregat von Zellen“ definierte. Des HIPPOKRATES Säftelehre schien erledigt; das Wesen der Erkrankung geklärt - und auch deren Ursache, denn der krankhafte Vorgang war nun als „Zelltätigkeit“ unter anomalen Umständen“ erkannt.

 

Doch was brachte der Sieg der Solidarpathologie für die Praxis?


Es bedeutete den Beginn des, „Jahrhunderts der Chirurgie“, denn wo die Krankheit „eine veränderte Zelle oder ein verändertes Aggregat von Zellen“ ist, ist die Beseitigung des „Krankheitsherdes“ gleichbedeutend mit der Beseitigung der Krankheit. Dem „Internisten“. dagegen blieb allein die Erkenntnis des Joseph SKODA: „Wir können ,eine Krankheit diagnostizieren, beschreiben und begreifen, aber wir wollen nicht wähnen, sie durch irgendwelche Mittel beeinflussen zu können.“ Und damit war man im „internistischen“ Bereich wieder an jenem Punkte, an dem die Geschichte der Medizin bereits im klassischen Alexandrien war, wo SERAPHION (um 220 v. Chr.) seinen Zeitgenossen zurief: „Warum auch soll jemand dem HIPPOKRATES mehr glauben als dem HEROPHILOS, oder diesem lieber als ASKLEPIADES? Wenn Theoretisieren es vermöchte, so könnten die Philosophen die größten Ärzte sein, aber die Philosophen sprudeln zwar von Worten über, jedoch von der Heilkunst fehlt ihnen jede Kenntnis.“ So suchet denn lieber bei dem Hilfe, „was uns die Erfahrung bei den Krankheitsbehandlungen ebenso gelernt hat, wie bei allen übrigen Künsten. Denn weder ein guter Landmann, noch ein guter Steuermann wird aus gelehrten Disputationen geschaffen, sondern nur durch Berufsausübung“; kurz: durch Erfahrung. „Empirikoi“ - Erfahrungsheiler - nannten sich seinerzeit die Gesinnungsgenossen des SERAPHION. In ihnen sehen wir die ersten namentlich bekannten Repräsentanten unserer Idee. Über die Barbiere, Bader, Kräuterfrauen und Alchimisten des Mittelalters führt ihr Weg in unsere Zeit, wo Vinzenz PRIESSNITZ, Johannes SCHROTH, Ewald BALZER, Arnold RIKLI u.a. dem wissenschaftlichen Nihilismus eines Joseph SKODA die Heilerfolge ihrer „Erfahrungsheilkunde“ gegenüberstellten. Sie bewiesen damit, was der hochgeistige ERASISTRATOS im klassischen Alexandrien erkannte, als er zwischen ärztlichem Forscher und ärztlichem Praktiker unterschied, indem er erklärte, es sei für den Praktiker nicht nötig die anatomischen und physiologischen Zusammenhänge bis in alle Einzelheiten zu kennen, wenn er nur wisse, was bei welchem Symptomenkomplex erfolgreich sei. Große Heiler haben das stets gewusst. Wir sehen diese Erkenntnis am höchsten kultiviert bei Samuel HAHNEMANN, der die Symptome statt in „Krankheitsbildern“, in Heilmittelbildern“ begriff. Es spricht diese Erkenntnis aber auch aus den obzitierten Worten SKODAS. Sie sagen doch im Letzten nichts Anderes, als dass es die „Naturheilkraft“ ist - die in jedem Körper wirkende „Physis“ des HIPPOKRATES, der „Archaeus“ des PARACELSUS - die die Heilung vollziehen, und dass der Arzt nichts anderes tun kann, als diese zu unterstützen - durch die Förderung der natürlichen Ausscheidungen („Entgiftung“), durch Verhinderung neuer „Belastung“ (Diät) und durch „Anreizung“ nach dem von ARNDT und SCHULZ formulierten Grundsatz: kleine Reize fördern, große hemmen, größte lähmen.
Die sich in aller Erfahrungsheilkunde seit Urzeiten immer wieder bestätigenden Grundregeln der Heilkunst sind damit ausgesprochen. Was braucht es zu ihrer Anwendung mehr als das Wissen, dass z.B. Faulbaumrindentee abführend und damit reinigend auf den Darm, kurz: entgiftend wirkt? Die Anwendung wird nicht wirksaurer, wenn sie von einem ausgeführt wird, der weiß, dass das in der Faulbaumrinde enthaltene Emodin und die Chrysophansäure das „Wirkungsprinzip“ bilden. Und doch setzte sich in der Heilkunst die Meinung des HEROPHILES durch, daß nur der wahrer Arzt sei, der sich im Besitze des Wissensstandes seiner Zeit befinde.

 

HEROPHILES: Ein wahrer Arzt ist nur derjenige, der sich im Besitze des Wissensstandes seiner Zeit befindet.

 

Einfach sind die Gründe. Mit unserer Feststellung, dass der Mensch stets nach dem „Warum“ der Dinge und Geschehnisse und daher auch nach dem „Warum“ der Erkrankungen und der Krankheitsabläufe gefragt habe, haben wir sie bereits genannt. Denn mit diesem Anreiz alles Forschens verband sich allzeit der vielfach erfahrungsbestätigte Glaube, dass dem Menschen aus dem Wissen über Ursache und Wirkung die Möglichkeit zufließe: Geschehensabläufe vorauszusagen (Prognosis) und, mindestens in einem gewissen Grad, zu lenken. Der „Wille zum Leben“ (SCHOPENHAUER) war beim Menschen immer vom „Willen zur Macht“ (NIETSCHE) überhöht, und in dem Wort „Wissen ist Macht“ scheint der Weg dieser Willenserfüllung vorgezeichnet. Es ist zunächst der Weg über Schule und Schulung, denn das „Wissen“ ist verpackt in Begriffen, bezeichnet in Worten und nur in solchen mitteilbar. Es ist aber auch der Weg der Machtausübung und begegnet uns bereits in den magischen Handlungen klassischer Priesterärzte und derzeitiger Medizinmänner. Denn das Wort „Magie“ meint „Macht“ und „Machtausübung“. „Macht“ nämlich über jene Dämonen, deren Wirken sich im Kranksein eines Menschen äußert. Nachdem nun manche dieser Dämonen durch die Hilfe des Mikroskops als „Bakterien“ ins Blickfeld der Forscher gerückt sind, wurden sie auch greifbar. Des HEROPHILOS These, es sei nur wahrer Arzt, wer sich auf der Höhe des Wissens seiner Zeit befinde, scheint deshalb nach Entdeckung der Antibiotika endgültig gesichert. Die „spezifische Therapie“ scheint gefunden, d.h. die Therapie aufgrund spezifischer Kenntnisse. Die Krise der „gelehrten Heilkunde“, wie sie aus den oben erwähnten Worten SKODAS spricht, scheint überwunden, um nun zur Krise der „nichtgelehrten“, der „Erfahrungsheilkunde“, zu werden. - Zu unserer Krise! Zur Krise des Heilpraktikerstandes!

 

Das staatliche Ordnungsprinzip führt zum Arzt!

 

Wohl stimmt es, wenn A. BAGINSKY“ sagt: „Geschichte der Medizin ist Medizin. Geschichte der Medizinalpolitik ist Medizinalpolitik“. Doch nur der Betrachter vermag eine solche Trennung vorzunehmen, denn der Mensch ist nicht nur ein „homo sapiens“, ein „vernunftbegabter“ Mensch, sondern, wie ARISTOTELES sagte, auch ein „homo politikon“, ein „politisches“ bzw. ein „Gesellschaftswesen“. Stets finden wir ihn in Gesellschaft mit seinesgleichen, und stets finden wir diese Gesellschaft auch am Wirken des Einzelnen interessiert. Wer mit Grahame CLARK glaubt, daß sich der ganze menschliche Daseinskampf ausdrücke „in einem nie endenden Versuch ..., die Kultur zu einem immer wirkungsvolleren Instrument zur Sicherung des Lebens und zur Erhaltung der Art zu machen“, der wundert sich nicht, wenn er hört, dass bereits HAMMURABI, der um 2000 v. Chr. lebende Großkönig Babyloniens, die Rechte und Pflichten derer gesetzlich regelte, die innerhalb und außerhalb des Tempels um die „Sicherung des Lebens“ bemüht waren.
Seitdem ist die Kette der Reglementation alles Heilstrebens nicht mehr abgerissen. Denn der Heilberuf blieb auch außerhalb des Tempels immer etwas Besonderes, scheint doch in seiner Hand die Macht über Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod zu liegen. Für jene, die zwar über Leben und Tod ihrer Mitmenschen gebieten können, aber keine Macht über Krankheit und Gesundheit haben, war damit stets ein Anreiz gegeben, sich kraft ihrer gesetzgebenden Macht der Dienstbarkeit der Heilkundigen zu versichern. Für die Heilkundigen selbst lag darin der Anreiz, sich als etwas Besonderes aufzufassen und jene Abkapselung vom gemeinem Volk - von den „Laien“ - durch eigene Gelöbnisse zu schaffen, welche bei den Priestern und Priesterärzten durch die kultischen Weihen sozusagen automatisch gegeben war. Im „Eid des Hippokrates“ begegnet uns die erste Verhaltensvorschrift, welche Heilkundige sich selber gaben. Doch sie, wie alle entsprechenden Ordnungen, gelten nur für die, die sich ihr freiwillig unterwerfen; während das, was das Gesetz des Staates festlegt, auch für denjenigen gilt, der es als drückend empfindet.

Der Versuch, selbstgegebene Ordnungsprinzipien durch den Staat zum Gesetz für alle Berufsgleichen erheben zu lassen, ist deshalb für die Heilkundigen seit eh und je ebenso gegeben, wie für jeden anderen Beruf. Für Jahrhunderte war deshalb ein Ordnungsprinzip geschaffen, als die Regierung des klassisch kaiserlichen Rom die Anerkennung des Arztseins von einer Prüfung durch die - ebenfalls anerkannte - Kollegenschaft abhängig machte. Die Trennung zwischen „staatlich anerkannten“, angestellten bzw. „bestallten“ - oder wie es in der Sprache der Römer heißt: „approbierten“ - Ärzten und freien Heilkundigen war damit geschaffen und überdauerte die Zeiten.

 

Doch letztlich blieb die Heilkunde frei...

 

Und wenn auch der Staat von den durch ihn Anerkannten ein Geprüftsein verlangte, die Heilkunde blieb nach wechselvollen Zeiten letztlich frei. Man bekannte sich auch zu ihrer Freiheit, als man in Deutschland 1869 daranging, eine gesetzliche Ordnung in das Berufswesen zu bringen und jene Gewerbeordnung erließ, die zwar den Titel „Arzt“ den staatlich Approbierten vorbehält (§ 29) und jeden mit Strafe bedroht, der sich diesen Titel ohne Approbation zulegt (§ 147), die es aber zugleich jedem überlässt, selbst zu entscheiden, von wem er sich behandeln lassen will. „Wem Gott und die Natur die Fähigkeit zum Heilen gegeben haben, dem darf die Polizei sie nicht nehmen“, so rief seinerzeit der „eiserne Kanzler“ der Deutschen - Otto von BISMARCK - seinem Parlamente zu, doch 70 Jahre später war es dann soweit: mit dem Heilpraktikergesetz wollte eine von einer totalitären Staatsführung geschützte Ärzteschaft dem Heilpraktikerstand ein „goldenes“ Ende bereiten. Doch nicht mit dem Stande der Heilpraktiker, sondern mit dem Polizeistaat ging es zu Ende. Es blieb sein Heilpraktikergesetz. Aber in einer freiheitlichen Ordnung wurde es für uns, die Heilpraktiker von heute, zu dem, was der Beschluss des Augsburger Reichstages von 1548 für die Bader und Barbiere des Mittelalters war: zur „Zünftigkeitserklärung“..

 

 

 

Der Gegen-Celsus (PARACELSUS)

 

Doch was die Geschichte uns hier bescherte, das bedroht sie auf andere Weise wieder. Einst rief ein Theophrastus  von  Hohenheim, genannt PARACELSUS, seinen ärztlichen Kollegen zu: „Also ihr Ärzte, was ist uns nütze der Name, der Titel, die hohe Schul, so wir nicht die Kunst auch haben? Die Kunst macht den Arzt, nicht der Name noch die Schul. Was ist uns nütz, daß wir groß Ansehen und großen Pomp führen, so wir die Kunst nicht können? Was ist‘s, dass wir geachtet werden bei Fürsten, Herren, Städten und Ländern, dass man uns große Dignität, große Ehre und Zucht erbeut, so es kommt in die Stunde der Not, dass wir sollten beschehene Ehre urbietig bezahlen, so wir die Kunst nicht haben?“ Im berühmten Ferrara hatte PARACELSUS studiert, mit dem Ergebnis, das GOETHE Faust sagen ließ: „Habe nun acht Philosophie - Juristerei und Medizin - und leider auch Theologie - durchaus studiert, mit heißem Bemühn. Da steh` ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor.“ Was er auf der „Schul“ nicht fand - die Kunst - das fand er dann, nach eigenem Zeugnis, „bei den Scherern, Badern, Weibern, Schwarzkünstlern und Alchimisten“, kurz; bei den Heilkundigen seiner Zeit. Wie es zu des PARACELSUS Zeiten war, war es schon lange vor ihm. Da lesen wir im hippokratischen Traktat „über die alte Medizin“ die Sätze: „Wer die Kunst der Heilkunde auf der Basis allgemeiner Postulate zu erörtern versucht, wie Hitze, Kälte, Feuchtigkeit, Trockenheit oder von sonst etwas, das die Phantasie erdenkt ..., ist nicht nur offensichtlich im Irrtum, sondern verdient Tadel, da sein Irrtum eine Kunst oder Technik betrifft, und obendrein eine solche Kunst, zu der alle Menschen in den kritischen Momenten ihres Lebens Zuflucht nehmen und deren Vertretern sie hohe Ehrungen erweisen.“ Nur ein „Praktiker“ kann solche Worte geschrieben haben, und es ist für uns - die Heilpraktiker von heute - interessant, von dem Historiker Benjamin FARRINGTON zu hören, dass die Oberaufseher der Gymnasien aus natürlicher Gegebenheit zur Heilpraxis gezwungen waren. Sie waren verantwortlich für das Essen ihrer Zöglinge und zu ihnen kamen jene, wenn sie sich einfach verletzt hatten, Bauchschmerzen verspürten oder fieberten. Aus ihrer Feder, so meint Benjamin FARRINGTON nach dem Vorgang von WITHINGTON, stammen seine Traktate des berühmten „Corpus hippokratikum“, die auf reiner, spekulationsfreier Heiltätigkeit beruhen. So sehen wir den ,großen HIPPOKRATES, den die Medizinhistoriker von heute als den „Vater der Medizin“ bezeichnen, aus denselben - Quellen schöpfen, aus denen später PARACELSUS schöpfte. Und die Ironie der Geschichte will es, daß jene, die sich heute als die Nachfolger des Hippokrates bezeichnen, uns atavistisch nennen, weil wir seine Humoralpathologie als noch lebendig betrachten. Für die, die sich als die modernen Jünger dieses Großen halten und feierlich seinen Eid schwören, ist seine Geistesleistung durch die Solidarpathologie des Rudolf VIRCHOW überwunden; jenes Professors der Medizin, dessen liberales Urteil - wie die Geschichte doch spöttisch ist - viel dazu beitrug, daß die Ausübung der Heilkunde die Gewerbeordnung von 1869 in Freiheit überlebte. Doch damit nicht genug. Man feiert in der Medizingeschichte den großen PARACELSUS als einen „Luther der Heilkunde“ bzw. als den „Wendepunkt“ zur modernen, chemisch tendierten Medizinwissenschaft. Doch sehen wir näher hin: Dass er, der Theophrast von Hohenheim sich „Para-Celsus“, d. h. „Gegen-Celsus“ nannte, war keine Laune, sondern ein Protest gegen die „Approbierten“ seiner Zeit: „Nicht weiter als Celsus seit ihr gekommen. Was  er über die Heilkunde  vor und zu seiner Zeit geschrieben hat,  das kann man bei euch lernen; doch bei Heilkundigen muss der in die Schule gehen, der Heilpraxis erlernen will.“ Das war der offenbare Sinn seiner Namensgebung.

 

Der echte Celsus war »Heilpraktiker« 

Der echte Celsus war »Heilpraktiker«. Doch wir sind noch nicht am Ende: Aulus Cornelius CELSUS (25 v. - 40 n. Chr.), zu dem sich Theophrast von Hohenheim durch seine Selbstbenennung in scheinbaren Gegensatz stellte, war - und wieder sehen wir die Geschichte ironisch - ebenfalls kein Arzt, sondern er übte „die Heilkunst aus Liebhaberei und zu eigenem Nutzen in seinen Valetudinarien“ (v. BOLTENSTREN) aus. Kurz, er war nach unserem heutigen Begriff ein Heilpraktiker. Ein Heilpraktiker allerdings, der zu seiner Zeit das tat, was um die Jahrhundertwende die Kollegen BILZ und PLATEN taten. Er sammelte und schrieb auf, was seine Zeit an Heilwissen und Erfahrung besaß. Noch heute ist sein so entstandenes Werk: „De medicina“ eine unerschöpfliche Quelle antiken Medizinwissens. Während die gelehrte Ärzteschulung der Zeit eines Theophrast von Hohenheim sich im Interpretieren des posthum als Arzt erschöpfte, waren jene, die wie CELSUS gleich „Laienheiler“ waren, durch Berufsausübung bereits wieder weiter gekommen. Und es wird uns deshalb verständlich: Theophrast von Hohenheim wollte, indem er sich „Paracelsus“ nannte, etwas ähnliches sagen, wie Prof. KUSSMAUL um die Jahrhundertwende. „Von der Hydrotherapie“, so sagte dieser 1897, „versteht der junge Arzt, wenn er die Universität verlässt, so gut wie gar nichts. Er perkutiert und auskultiert mit großer Sicherheit, er unterscheidet mit bewaffnetem Auge mindestens ein Dutzend Bakterien und kennt sich in der chemischen Küche vortrefflich aus, die Maximaldosen der gefährlichen Alkaloide sind ihm geläufig, und die Morphiumspritze begleitet ihn treu auf allen seinen Wegen; er ist nicht nur grundgelehrt, es beseelt ihn auch ein heißer Drang zu kurieren und zu helfen. Leider widerfährt dem einen und anderen bald ein ärgerliches Missgeschick, beschämt sieht er einen unapprobierten Wasserdoktor eine glückliche Kur verrichten, die ihm nicht gelungen ist.“.

 

Mit dem Sieg begann die neue Krise

 

So war geblieben, was schon zu des PARACELSUS Zeiten war. Doch die Zahl derer, die sich daran machten, durch Übernahme  ;,natürlicher“ Behandlungsweisen zu ähnlichen Erfolgen zu gelangen wie die Wasserdoktoren, war gestiegen. Ein gegenseitiges Nehmen und Geben konnte man zu Zeiten des Prof. KUSSMAUL feststellen. Es begegnet uns ein Dr. Josef SCHINDLER als Prießnitzschüler, wir sehen‚ in Bad Wörishofen, die Sanitätsräte SCHOLZ, SCHALLE und BAUMGARTEN als Schüler des Johann Sebastian KNEIPP. Das sind nur einige Namen. Vorbei sind die Zeiten, zu denen ein Professor WINTERNITZ schrieb: „Jahrzehntelang musste ich ja vor der Veröffentlichung einer jeden Arbeit gewissermaßen um Entschuldigung bitten, dass ich, ein ärztliches Publikum mit Mitteilungen über die Wirkungen des ganz gemeinen Wassers behelligte.“ Die Wirkung des Wassers ist „kassenersatz-fähig“ geworden,
Ein Sieg und eine Krise unseres Standes werden in dieser Tatsache offenbar. Ein Sieg jener Kollegen, die im 19. Jahrhundert die Naturheilvereine gründeten und manchem armen Nest dazu verhalfen, ein gesuchter Kurort zu werden. Eine Krise, die darin deutlich wird, daß Ärzte in verschiedenen Naturheilvereinen an die Stelle der Heilpraktiker getreten sind, daß in Zeitschriften, in denen einst Heilpraktiker und Ärzte einträchtig zusammenarbeiteten, nur noch Veröffentlichungen von Approbierten zu finden sind, und daß man sich an Orten, die ihre Größe dem zähen Ringen von Heilpraktikern verdanken, kaum mehr solcher Tatsachen erinnert. Warum auch? Das Geschäft floriert und die Nachfolger jener, die den Kurbetrieb einstmals hochtrieben, erhalten heutzutage nicht einmal mehr jene Vergünstigungen, die man bereitwillig denen konzidiert, deren Vorgänger die Gründer des Kurortes nur deshalb verfolgten, weil sie die Heilkunde ohne Approbation ausübten. Doch damals war alles anders. Nur wenige profitierten vom Geschäft. Inzwischen ist man: von den „Kassen“ anerkannt. Für die „Kassen“ aber gilt nur das Urteil der „Approbierten“, und so darf man diese nicht vergraulen.

 

Die Machtpolitik der Ärzteschaft

 

Falsch wäre es allerdings zu sagen, wir hätten unter den Ärzten keine Gegner. Es zeigt das obgenannte Zitat von Prof. KUSSMAUL mehr als deutlich, dass es heute noch vielen von ihnen geht, wie einst PARACELSUS. Denn, so hören wir von Prof. H. HORSTERS: es „bedeutet der Übergang vom Erlebnis der Medizinschule zur verantwortlichen Praxis für den Arzt das Berufserlebnis. Diesen Übergang erlebt ein jeder Arzt. An diesem Punkt entscheidet sich der Wert seines Arzttums, welches- gegründet ist auf dem Charakter des Einzelnen und der geistigen Haltung seiner ‚Schule‘. Aus diesem Erlebnis erwächst jedem gutem Arzt ein persönlicher Stil seines beruflichen Handelns.“ Zu des PARACELSUS Zeiten „war dieser Übergang ein Übergang von einer rein theoretischen Schule in die raube Praxis. Heute dagegen ist es ein Übergang von einer mit höchster technischer Raffinesse ausgerüsteten, weitgehend spezialisierten Klinik in eine an diagnostischen Hilfsmitteln arme Praxis, in die ein absolut unspezifisches Publikum kommt. Für manchen Adepten der Medizin ist dieser Übergang ein Übergang ins „Schwimmen“. Für jene, die ihn einem PARACELSUS ähnlich erleben, bringt er die Hinwendung zur „Erfahrungsheilkunde“, die seit eh und je ihre Erfolge ohne große Apparatur erreichte. Doch diese Hinwendung ist bei vielen nur eine Hinwendung zur Methode, vielleicht auch noch, wie bei manchem „Kneipparzt“, eine Hinwendung zu einem materiellen Gewinn versprechenden Namen; aber keine Hinwendung zum Geist der Methode oder gar zu denen, die diesen Geist vertreten, zu den Heilpraktikern. Stets müssen wir uns deshalb vor Augen halten, dass bereits bei den Diskussionen um das Heilpraktikergesetz die Meinung auftauchte, die Heilpraktiker täten nichts anderes als die Ärzte, denn die „Naturheilkunde“ sei ärztliches Gedankengut. Wo z. B. Ärzte wie Dr. HARDER (1836) erklärten: „Ich halte Prießnitz für den größten jetzt lebenden Arzt ...“, da wird heute oftmals behauptet, seine heilpraktischen Nachfolger seien Nachahmer derer, die bei PRIESSNITZ oder KNEIPP erst in die Lehre gehen mussten, um zwar nicht Naturheilkundige, aber doch „naturheilkundig“ zu werden. Mag diese Meinung „im Volke“ auch nur wenig Resonanz finden, die Tatsache, dass viele Anwendungsformen der „Naturheilkunde“ kassen-ersatz-fähig geworden sind, lässt bei manchem den Gedanken aufkommen, dass er über den Arzt billiger dieselbe Behandlung erlangen könnte, wie er sie bei einem Heilpraktiker findet, und macht den Anfang unserer jungen Kollegen nicht einfacher.
Der Begriff der „Kasse“ ist in unserer Zeit zu einem die Heilkunde beherrschenden Moment geworden und hat sich auch mit der Geschichte unseres Standes bereits in einer Weise verquickt, die fast einmal das Ende der Heilpraktiker bedeutet hätte. Dabei ist die „Sozialversicherung“ nicht einmal so neu. Schon das klassisch-kaiserliche Rom hatte seine vom Staate honorierten „Archiatri populares“ bzw. „Armenärzte“. Mit ihnen trat die Idee des vom Staate anerkannten „Rechtes auf Gesundheit“ in die Medizingeschichte, um uns in dem von BISMARCK gegründeten Sozialversicherungs- (AOK und DAK) und Ersatzkassensystem breit angelegt wieder zu begegnen. Wir müssen erkennen: Wie Rom einst nur „approbierte“ Ärzte als „Archiatri populares“ anerkannte, so konnte ein Staat, der das Bedürfnis nach Krankenhilfe als berechtigt anerkennt, die Anforderungen, die er an die Wächter der Gesundheit stellt, durch gesetzliche Festlegungen umgrenzen, und da er deren Ausbildungseinrichtungen finanziell trägt, nur die von ihm Approbierten zu diesen Kassen zulassen.
Doch im kaiserlichen Deutschland war es anders als im kaiserlichen Rom. Kaum war die Honorierung der „Armenbehandlung“ gesichert, da trieben auch schon die Honorarforderungen der Zugelassenen das Kassensystem des „eisernen Kanzlers“ in eine Krise. Am Horizont leuchtete für unsere Vorgänger einen kurzen Moment das „Morgenrot“ der Kassenzulassung, als die Vorstände der Krankenkassen, (um 1900) sich überlegten, ob der ärztlichen Drohung nicht durch Zulassung von Heilpraktikern zur Kassenbehandlung begegnet werden solle. Ein Aufstand der Approbierten war die Folge, und da der Staat einer Erpressung mit Hilfe der nichtapprobierten Heilpraktiker auszuweichen versuchte, richtete sich der Angriff gegen diese. Und wenn der folgende Kampf auch längst Geschichte wurde, wir sollten ihn nie vergessen, ging es doch bei ihm, wie A. BAGINSKY sagt, „um Sein oder Nichtsein“. Die um 1900 durch den Leipziger Arzt Dr. HARTMANN erfolgte Gründung des „Verbandes der Ärzte Deutschlands zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen“, kurz: Hartmann-Bund, zeigt bereits durch seinen Namen, worum es letztlich ging . Die Gründung einer „Deutschen Gesellschaft gegen das Kurpfschertum“ offenbarte die Weise, in der die „Ärzte Deutschlands“ ihre „wirtschaftlichen Interessen“ wahren wollten. Durch eine vollständige Ausschaltung „jeder nichtärztlichen Konkurrenz, mit dem Hintergedanken verbunden, dass die Krankenkassen dann nicht mehr den streikwilligen Ärzten mit der Drohung, die Naturheilkundigen heranzuziehen, begegnen könnten“ (A. BAGINSKY). Hätte es damals keinen Max Eduard GOTTLIEB gegeben, wer wüsste, wie der vordergründig um ein „Gesetz gegen das Kurpfuschertum“ geführte Kampf ausgegangen wäre. Wir aber vermögen es als „Außenstehende“, wenn wir uns nur an jene Heilmittel und Heilkräfte erinnern, welche von unseren Geschichte gewordenen Vorgängern über kommen sind.

 

Die Geschichte sagt uns wer wir sind!

 

Wir dürfen die Errungenschaften der technifizierten Medizin nicht übersehen und müssen erkennen, dass der Arzt aus gleicher Notwendigkeit ist und sein muss, aus der wir sind. Wir müssen uns aber auch immer bewusst bleiben: unser Stand - der Heilpraktikerstand - hat eine Tradition, die sich sehen lassen kann. Wo ein Kliniker sagen muss: „Das Studium der Medizingeschichte bewahrt vor der ständigen Gefahr bequemer Simplifizierungen in unserer eiligen Zeit und führt zu gesundem Misstrauen gegenüber den sich ablösenden Theorien, Dogmen und der Flut  interessegebundener Information“ (H. H. BERG), da können wir sagen: Das Studium der Heilpraktikergeschichte lässt eine Kontinuität des Erfahrens erkennen, das uns immer wieder, unabhängig von den sich ablösenden Theorien, Dogmen und interessegebundenen Informationen, den Erfolg natürlicher Heilmittel erweist. Es erweist sich auch uns als Quelle des Erfolges, wenn jeder Einzelne sich mit dem Historiker Ralph Barton PERRY im klaren darüber ist, dass letztlich die Geschichte unser geistiges „Betriebskapital“ liefert, ganz gleich, ob es der Einzelne nun »verschleudert, von den Zinsen lebt oder ob er es in neuen Unternehmungen investiert«. Noch immer gilt: „Eine Gesellschaft lebt in der vordersten Reihe der Zeit kraft ihres angesammelten Vermächtnisses.“ Die klassischen Empiriker wussten dies, als sie: Beobachtung, Geschichte und Übertragung (den Dreifuß des GLAUKIAS) die Grundlagen des Erfolges nannten: Die Beobachtung der augenblicklichen Situation, die Feststellung dessen, was andere (geschichtliche Vorgänger und Zeitgenossen) in ähnlicher Situation taten, und die Übertragung des Erfolgshandelns als die aktuelle Situation.
Das ist Deutung der Gegenwart aus der Geschichte, und aus ihr erkennen wir auch, wer und was wir sind: Ein uralter, aus dem Volke gewachsener, sich aus dem Volke stets von neuem regenerierender Stand von Heilkundigen, der sich, dem Volke stets verbunden, vom Arzte dadurch unterscheidet, dass er seine Heilmittel und Heilmethoden nicht aus analytischer Suche ableitet, sondern aus Jahrhunderte alter Heilerfahrung bezieht, um sie zum Wohle seiner Mitmenschen in Anwendung zu bringen.
GOTTLIEBS Bund hat sich in der Gestalt der Deutschen Heilpraktikerschaft längst stabilisiert, soweit ihr seine Glieder, wir, die einzelnen Heilpraktiker, Stabilität verleihen. Längst ist der Streit von damals vorbei. Es blieb was war: Es blieben die Approbierten die einzigen Sozial-Kassen-Zugelassenen; und es blieb der Heilpraktikerstand, durch Urteile des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts erneut gesichert. Unser Stand wäre, meine ich, auch so geblieben. Denn, so stellt der Pathologe Siegfried GRÄFF seziermesserscharf fest: „Das Vertrauen des Volkes gehört ... nicht ohne weiteres nur dem vom Staate eingesetzten Vertreter. Das Urteil: ,Er ist überhaupt kein Arzt‘; ,er ist nicht der richtige Arzt für mich‘; bedeutet hierbei keineswegs eine Kritik seines medizinischen Wissens, sondern ausschließlich seines Einfühlungsvermögens in die angeschlagene Persönlichkeit des Hilfesuchenden. Ein solcher billigt sich ein ausreichendes eigenes Urteilsvermögen zu und behält sich - unbeschadet seines Standes und seiner Allgemeinbildung - das Recht der eigenen Wahl vor. Die Person des Vertrauens kann deshalb für den Hilfesuchenden auch der Naturheilkundige, ja sogar der ,Kurpfuscher‘ oder die ,weise Frau‘ sein.“
Die privaten Krankenversicherungen, oder doch mindestens der größte Teil von ihnen, waren und sind - wir müssen das dankbar verzeichnen - sich dieser Tatsache stets bewusst. Doch auch wir sollten uns ihrer stets bewusst sein. Denn so manches was uns als Zukunftsbedrohung erscheint, wird vor ihrem Hintergrunde klarer. Wo die vom Sozialversicherungssystem und seiner ständigen Erweiterung bedingte Einengung der Wahlfreiheit von Sozialversicherten auch uns in Nachteil zu bringen scheint, erwächst uns ein Vorteil, wenn wir an die Warte des großen Prof. V. v. WEIZSÄCKER denken: »Die Versicherung gegen Krankheitsfall usw. wurde im Rechtsstaat als Rechtsanspruch aus gesetzlichen Titeln konstruiert, nach der Analogie privatrechtlicher Anprüche auf Haftpflicht und prozessuale Rechtsprechung. Da nun die Gesundheit kein Sachgut ist, musste sie unvermerkt eine Behandlung erfahren, als ob sie ein solches wäre, und da der Rechtsanspruch aus Krankheit und Leiden zu begründen war (und noch ist), wurden auch diese ein zu verteidigender Sachwert. Wie Arbeit, so bekam auch Krankheit den Charakter eines Sach- und Handelswertes im Kampf ums Dasein. Darin steckt eine Verletzung des Natursinns von Gesundheit und Krankheit. Nicht durch Anreiz zum Betrug, sondern durch innere Notwendigkeit ebnet sie den Weg in die Krankheit.“ Sie ebnet den Weg in eine Krankheit, aus der der Kassenarzt den Kranken nicht lösen kann.«